
Die Wesentlichkeitsanalyse ist mehr als nur ein Einstiegspunkt in den Nachhaltigkeitsbericht – sie zeigt, worüber Unternehmen überhaupt berichten müssen. Gemäß CSRD und den European Sustainability Reporting Standards (ESRS 1) ist sie der formale Filter, durch den alle Nachhaltigkeitsthemen laufen müssen.
Neu ist dabei vor allem das Konzept der doppelten Wesentlichkeit: Unternehmen müssen sowohl beurteilen, wie sich Umwelt- und Sozialfaktoren auf ihren finanziellen Erfolg auswirken (Outside-in, also finanzielle Wesentlichkeit), als auch, welche Auswirkungen ihre Geschäftstätigkeit auf Umwelt und Gesellschaft hat (Inside-out, also Impact-Materialität).
Die Umsetzung dieser Doppelperspektive ist verpflichtend für alle berichtspflichtigen Unternehmen ab 2024 – unabhängig von Branche oder Unternehmensgröße.
Doch wie gut gelingt das in der Praxis?
In diesem Beitrag der Serie „Inside CSRD“ werfen wir einen fundierten Blick auf genau diese Frage – gestützt auf die Auswertung von mehr als 200 CSRD-Berichten, die in Studien unter anderem von EY, Deloitte & DRSC, PwC (Webcast), Horváth, KPMG, KEY ESG, European Issuers untersucht wurden.
Dabei wird deutlich: Die Wesentlichkeitsanalyse 2024 ist fester Bestandteil fast jedes Berichts – doch methodische Reife, Transparenz und strategische Verankerung unterscheiden sich.
Im diesem Blogartikel zeigen wir, wie verbreitet die Umsetzung tatsächlich ist – und welche Qualitätsunterschiede dabei auffallen.
1. Status Quo: Alle machen’s – aber wie gut?
Die gute Nachricht zuerst: Nahezu alle Unternehmen, deren Berichte in den analysierten Studien untersucht wurden, haben eine Wesentlichkeitsanalyse durchgeführt – wie es die CSRD verlangt.
Doch die Studien zeigen auch: Die Qualität und Reife dieser Analysen unterscheiden sich erheblich. Zwischen einer formal „abgehakten“ Darstellung und einer transparent dokumentierten, strategisch eingebetteten Analyse liegen teils Welten.
Pflicht erfüllt – mit Luft nach oben bei Tiefe und Transparenz
Mehrere Studien benennen typische Schwächen:
KEY ESG zeigt, dass die Methodik zur Wesentlichkeitsanalyse in vielen Berichten kaum nachvollziehbar ist: Nur wenige Unternehmen nutzen eine Wesentlichkeitsmatrix, und nahezu keines weist numerische Bewertungsverfahren aus.
Laut Horváth visualisieren nur 20 % der Unternehmen die Ergebnisse ihrer Wesentlichkeitsanalyse – etwa in Form einer Matrix, wie sie in ESRS 1 (Anhang F) empfohlen wird.
EY berichtet, dass Stakeholderengagement von allen Unternehmen adressiert wurde, jedoch teilweise nur oberflächlich: 26 % der Unternehmen beschrieben die Einbindung lediglich in Textform – ohne Visualisierung oder weitergehende Detailtiefe..
Auch bei der Verknüpfung mit Strategie, Risikomanagement und Zielsystemen bleiben in manchen Berichte vage – obwohl genau das der eigentliche Mehrwert der doppelten Wesentlichkeit wäre.
Zahlenspiele ohne Kontext?
Hinzu kommt: Einige Unternehmen nennen zwar sehr viele „Impacts, Risks & Opportunities“ (IROs) – doch ohne erkennbare Priorisierung oder nachvollziehbare Auswahl.
EuropeanIssuers weist darauf hin, dass 77 % der Unternehmen externe Unterstützung bei der Methodik in Anspruch genommen haben – was für den Einstieg hilfreich ist, aber nicht automatisch zu strategischer Tiefe führt.
Die Wesentlichkeitsanalyse ist allgegenwärtig – aber methodisch teilweise unreif. Viele Unternehmen orientieren sich eng an regulatorischen Mindestanforderungen, doch echte Transparenz, Stakeholdereinbindung und strategische Priorisierung sind (noch) selten.
2. Eine Analyse, viele Reifegrade
Ein zentraler Output der Wesentlichkeitsanalyse im Rahmen der CSRD ist die Identifikation sogenannter IROs – Impacts, Risks & Opportunities. Sie bilden das inhaltliche Rückgrat des Nachhaltigkeitsberichts: Nur Themen mit mindestens einem wesentlichen IRO werden berichtspflichtig.
Die analysierten Studien zeigen: Die Spannweite der berichteten IROs ist enorm – ebenso wie deren Qualität.
Durchschnitt: Rund 40 IROs pro Bericht
Horváth ermittelte einen Durchschnitt von 39 IROs pro Unternehmen (Median: 36).
Deloitte/DRSC kommt auf Ø 42 IROs, mit einer Spannweite von 5 bis 118 – ein deutliches Zeichen für fehlende Vergleichbarkeit.
KEY ESG nennt eine durchschnittliche Zahl von 38 IROs, ebenfalls bei hoher Varianz (11–102).
Diese Zahlen machen deutlich: Während manche Unternehmen eine breite Themenbasis abdecken, reduzieren andere ihre Analyse stark – teils aus Datenmangel, teils aus strategischer Vorsicht.
Inhaltliche Verteilung: Risiko dominiert, Chancen fehlen
Besonders aufschlussreich ist die qualitative Zusammensetzung der IROs. Laut Horváth ergibt sich folgende durchschnittliche Verteilung:
63 % der IROs betreffen negative Impacts,
25 % beziehen sich auf Risiken,
nur 12 % auf Chancen.
Diese Asymmetrie ist bemerkenswert: Die Berichte konzentrieren sich stark auf Problemstellungen – Chancenpotenziale bleiben unterrepräsentiert. Dabei sind z. B. Geschäftsmodelle zur Energiewende, Kreislaufwirtschaft oder nachhaltigen Innovationen vielfach gegeben, werden aber oft nicht explizit als strategische Chance benannt.
Was die Zahlen (nicht) sagen
Die absolute Anzahl von IROs ist kein Qualitätsmaßstab an sich – 100 Einträge ohne Priorisierung helfen wenig. Entscheidend ist, ob die IROs nachvollziehbar ausgewählt, begründet und priorisiert wurden. Genau daran mangelt es jedoch vielen Berichten:
KEY ESG bemängelt die fehlende Dokumentation der Bewertungsmethodik.
EY weist darauf hin, dass manche Unternehmen IROs nur listen, ohne Kontext oder Bezug zur Gesamtstrategie.
Deloitte bemerkt, dass bei manchen Unternehmen die IROs nur sehr knapp formuliert werden.
Die Wesentlichkeitsanalyse 2024 liefert oft eine Vielzahl an IROs – teilweise jedoch ohne methodische Klarheit, strategische Relevanz oder erkennbare Entscheidungslogik. Wer mit wenigen, aber gut begründeten IROs arbeitet, ist unter Umständen transparenter als ein Unternehmen mit 100 unsortierten Einträgen.
3. Reifegrade im Vergleich: Zwischen Mindeststandard und Best Practice
Während die Wesentlichkeitsanalyse 2024 in allen Berichten vorkommt, unterscheidet sich die Qualität der Umsetzung erheblich. Einige Unternehmen liefern eine bloße Pflichterfüllung – andere nutzen die Analyse als strategisches Instrument. Die Studien zeigen klare Muster dieser unterschiedlichen Reifegrade.
Große Unterschiede zwischen Unternehmenstypen
Laut Deloitte/DRSC berichten größere Unternehmen – insbesondere DAX-Konzerne – häufiger vollumfänglich nach ESRS als kleinere börsennotierte Firmen. Auch die Anzahl identifizierter IROs ist bei ihnen im Schnitt höher, was auf ein strukturiertes Vorgehen bei der Wesentlichkeitsanalyse hinweist.
Zu beobachten ist gemäß der Studien eine unterschiedliche Herangehensweise je nach Erfahrung mit ESG-Berichterstattung: Unternehmen, die bereits zuvor nach GRI oder TCFD berichteten, zeigen sich methodisch weiter.
Strategisch statt formal: Was Best Practices auszeichnet
Die wenigen Unternehmen, die ihre Wesentlichkeitsanalyse strategisch nutzen, weisen einige gemeinsame Merkmale auf:
Interdisziplinäre Teams (z. B. ESG, Strategie, Risiko, Kommunikation) entwickeln die Analyse gemeinsam.
Stakeholderdialoge werden konkret dokumentiert – mit Zielgruppen, Methoden und Ergebnissen.
Die Bewertung erfolgt strukturiert und gewichtet, z. B. über Scoring-Modelle oder Schwellenwerttabellen.
Ergebnisse werden mit Zielen, Maßnahmen oder KPIs verknüpft – und nicht isoliert dargestellt.
IROs fließen in Risikoberichte, Strategieprozesse oder Zielsysteme ein.
Das Ergebnis: Die Wesentlichkeitsanalyse wird nicht als lästige Vorschrift behandelt, sondern als Chance für strategische Positionierung und konsistente Kommunikation.
4. Fazit: Von der Pflicht zur Positionierung
Die Analyse zeigt deutlich: Die Wesentlichkeitsanalyse 2024 wird von fast allen Unternehmen umgesetzt – aber die Art und Weise, wie dies geschieht, variiert erheblich. Während manche Organisationen ein methodisch fundiertes, nachvollziehbares und strategisch eingebettetes Vorgehen wählen, behandeln andere die Analyse eher als regulatorische Pflichtübung.
Was viele Berichte zeigen:
Methodik bleibt teilweise intransparent
Stakeholderperspektiven sind oft noch oberflächlich
Visualisierungen und Bewertungslogiken werden selten offengelegt
Chancen werden seltener genannt als Risiken oder negative Impacts
Gleichzeitig gibt es positive Beispiele: Unternehmen, die ihre Wesentlichkeitsanalyse als Steuerungsinstrument verstehen, sie mit strategischen Zielen, KPIs und Risikoanalysen verknüpfen – und damit echten Mehrwert für Management und Berichtsempfänger schaffen.
Empfehlung für die Praxis:
Die Wesentlichkeitsanalyse nicht isoliert betrachten, sondern in Strategie und Steuerung integrieren
Transparenz bei Methodik, Priorisierung und Stakeholderdialog aktiv herstellen
Chancen nicht vergessen – sie zeigen Entwicklungs- und Innovationspotenziale
IROs nicht nur auflisten, sondern priorisieren, kommentieren und operativ verknüpfen
Die CSRD eröffnet den Raum für fundierte Nachhaltigkeitskommunikation – die Wesentlichkeitsanalyse ist dabei das Tor. Wer hier Klarheit, Struktur und Tiefe schafft, positioniert sich nicht nur regulatorisch, sondern auch strategisch.